Stellungnahmen:

Gesellschafliche/religiöse Normen und Tabus

Wir sind nicht nur materiell in einem begrenzten Raum gefangen, sondern auch geistig. Jeder spürt irgendwann einmal die Enge, sei es in der Sturm-und-Drang-Phase seiner Jugend oder im großen politischen Stil wie etwa im jetzigen arabischen Frühling. Moral und Gewalt erwischen den nach Weite (oder Tiefe) Suchenden dabei gänzlich auf dem falschen Fuß. Es ist auch nicht damit getan, irgendwelchen Strömungen ein Ventil zu geben, sondern die dahinterliegende Suche nach Gott zu erkennen und mit den Hungernden und Durstenden das Göttliche zu teilen. Rückblickend in die Geschichte der Menschheit gibt es dabei kaum etwas was nicht schon einmal abgeschritten wurde und woran sich ein Suchender nicht orientieren könnte. Es sind nette Gedankenspielereien sich vorzustellen, wie alles geworden wäre, wenn der Verlauf der Geschichte nicht diesen, sondern eben einen anderen Weg genommen hätte. Der Vergleich mit einer menschlichen Beziehung ist dabei sehr naheliegend, in der man gemeinsame Wege geht bis man an eine Grenze stößt. Häufig wird versucht, diese Grenze mit sexueller Freizügigkeit zu verschieben und glaubt, heute durch die Fortschritte in der Medizin und der Hygiene weiter gehen zu können als frühere Generationen. Abgesehen davon, dass etwa nicht alle medizinischen Methoden unumstritten sind und einige Krankheiten derweilen noch unheilbar sind, kommt man hier aber auch im rein Geistigen oft durch schwere seelische Verletzungen, Enttäuschungen und Eifersucht an Unzumutbares und nicht mehr Überwindbares, wie die vielen zerbrochenen Beziehungen zeigen. Intimität und Vertrautheit lässt sich eben nicht zu Schleuderpreisen in der Gosse verhandeln. Intimes und Vertrautes braucht mehr als nur einen körperlichen Kontakt, es braucht ein Verstehen, ein Mitdenken und ein Mitfühlen. Verstanden wird aber immer nur das, was man selber schon erlebt hat und daher sind Erfahrungen anderer zwar schön, jeder muss aber trotzdem immer seine eigenen machen (das ist auch der Grund, warum es trotz aller bereits schon geführter Kriegen und damit erworbener Erfahrungen immer wieder neue Kriege geben wird).

Bei den Gedankenspielen, wie die Geschichte verlaufen wäre wenn …, möchten wir uns dem Mittelalter mit der späteren Aufklärung widmen und dem Verhältnis des Christentums zur Reinkarnation. Das Christentum kann ohne die Reinkarnation vieles nicht erklären. Etwa, dass trotz des alle Menschen liebenden Gottes der Tod so unerbittlich ist und alle entweder in den Himmel oder in die Hölle kommen. Da das aber nicht so sein kann und die Ungleichheiten und ungleichen Bedingungen des Leben irgendwo aufgefangen werden müssen, gibt es dazu ein Fegefeuer. Völlig verloren geht dabei aber das Erlösungswerk Christi, von dem auch viele Christen nicht wissen, worin dieses eigentlich besteht. Dass wir jedes Leben neu d.h. ohne Erinnerung an ein voriges Leben beginnen, befreit uns von einer großen Last und ermöglicht es uns, uns besser als sonst auf die jetzige Aufgabe zu konzentrieren. Das Christentum geht dadurch mit dem Materiellen weit „rationeller“ um, als andere Religionen. Aus dieser Entseelung oder „Entgeistigung“ des Gegenständlichen erwächst nicht nur Atheismus, sondern auch ein Ungleichgewicht, das etwa den Nährboden für Esoterik bildet. Die Welt wäre heute sicher eine andere, wenn das Christentum einen anderen Zugang zur Reinkarnation gefunden hätte. Der gleiche Bruch mit dem Gegenständlichen findet sich auch beim Übergang vom Mittelalter zur Aufklärung. Die Vernunft oder der Verstand dient der Aufhellung unserer kurzfristigen und unmittelbaren Wahrnehmung. Dies kann aber keine Berechtigung sein für die Dominanz, die die Vernunft seit der Aufklärung hat. Wie wäre die Welt heute, wenn der Verstand sich in der Aufklärung nicht mit sich selber beschäftigt hätte, sondern mit all den Phänomenen, die man im Mittelalter für das Gemeinwohl als schädlich hinstellte, mit einem Tabu belegte und außerhalb der Religion ansiedelte wie Zauberei und Beschwörungen. Bei jeder Tür die aufgemacht wird kommt man in neue weite Räume von Dualismus, wo das Gute und das Böse sehr eng beieinander liegen. Es braucht viele Jahre der Entwicklung, bis sich die Nebel eines neuen Raumes wieder lichten. So gesehen ist die Aufklärung vielleicht eine von vielen Türen gewesen, die in der Geschichte notwendig waren, um eine Tür in einen Raum zu öffnen, wo man früher wegen zu viel Misstrauen gegenüber Gott und gegen den Mitmenschen schon mal gescheitert ist.

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Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein,
oder er wird nicht mehr sein.
Karl Rahner (5.März 1904 - 30.März 1984)

Nachtrag: Am 17.Dez. 2011 gab es auf diePresse eine Literaturbesprechung "Religiös bis zur Raserei". Jetzigen Artikel wollen wir daher noch einmal verkürzt mit den dort gefunden Worten so wieder geben. Religiöse Menschen auf der ganzen Welt stimmen überein, dass etwas schiefgegangen ist. Für uns wurde im Mittelalter falsch d.h. in die Aufklärung abgebogen. Der richtige Weg hätte in eine andere Richtung geführt.